Im Zweifel für den Angeklagten

Es begab sich eines späten Abends in Berlin im September 2011, dass einer 35-jährigen Fußgängerin ihre Handtasche von einem Jugendlichen entrissen wurde, der sich daraufhin sehr schnell entfernte. In der Nähe des Tatorts hatte der Täter etwas verloren, was sich als Anmeldungsunterlagen für eine Fahrschule herausstellte. Die darauf benannte Person (unser Mandant) nahm man dann als Tatverdächtigen an.

Die Polizei war schnell vor Ort und sehr schnell wurde der Zeugin dann auch auf dem Revier eine Lichtbildvorlage mit Ganzkörperfotos von unserem Mandanten und fünf weiteren Personen gezeigt. Dabei war sich die Zeugin noch sehr unsicher. Man legte ihr dann auf ihren Wunsch eine Wahllichtbildvorlage nur mit den Gesichtern dieser sechs Personen vor, von denen sie drei als ähnlich erkannte, darunter auch unser Mandant.

Am folgenden Tag hatte man noch neuere Fotos von unserem Mandanten und bat die Zeugin nochmal zu einer Lichtbildvorlage. Dabei zeigte die Polizei Fotos von unserem Mandanten und fünf nochmal neu zusammen gestellten anderen Personen. Die fünf anderen Personen konnte die Zeugin ausschließen und war sich bei unserem Mandanten nunmehr zu 90% sicher, dass er der Täter war.

Die Staatsanwaltschaft erhob also Anklage wegen Raubes gemäß § 249 StGB und in der Hauptverhandlung äußerte die Zeugin, dass sie unseren Mandanten jetzt ganz sicher wiedererkannt habe und sich absolut sicher sei. Also eine ziemliche schlechte Situation für meinen Mandanten?

Das Wiederkennen durch Zeugen ist ein höchst subjektiver und potentiell fehlerbehafteter Vorgang. Ich stellte daher einen Antrag auf Einholung eines experimentalpsychologischen  Sachverständigengutachtens, der vom Gericht noch abschlägig beschieden wurde (wegen eigener Sachkunde des Gerichts). Jedoch waren vorliegend eine ganze Reihe von Fehlern bei der polizeilichen Wahllichtbildvorlage erfolgt.

Idealtypisch sollte eine Lichtbildvorlage wie folgt verlaufen:

1.) Die Polizei fragt die Zeugin nach der ihr in Erinnerung gebliebenen anatomischen und sonstigen Merkmalen des äußeren Erscheinungsbildes.

2.) Anhand dieser von der Zeugin beschriebenen besonderen Tätermerkmale wird eine Lichtbildvorlage mit Bildern von Vergleichspersonen erstellt, die alle von der Zeugin beschriebenen besonderer Tätermerkmale aufweisen.

3.) Die Lichtbilder werden der Zeugin nacheinander von einem Polizeibeamten vorgelegt, der nicht weiß, wer der Tatverdächtige ist und die Zeugin vorher darauf hinweist, dass der Täter nicht unter diesen Personen sein muss und es schon eine Hilfe sein kann, zu erfahren, dass es keiner von diesen Personen war.

Dies war aber tatsächlich passiert:

1.) Die Polizei fragte die  Zeugin vor der Lichtbildvorlage ganz allgemein über die äußere Erscheinung des Täters, nach besonderen anatomischen und anderen Merkmalen wurden nicht nachgefragt.

2.) Für die erste Lichtbildvorlage wurde nicht die Täterbeschreibung zugrunde gelegt, sondern Lichtbilder von Personen genommen, die unserem Mandanten möglichst ähnlich sein sollten (was aber auch nur sehr bedingt gelang).

3.) Die Lichtbilder wurden der Zeugin von dem ermittelnden Polizeibeamten vorgelegt, der sehr genau wusste, wer der Tatverdächtige ist und nach eigenem Bekunden zur Lichtbildvorlage im Übrigen nichts sagte.

4.) Am darauf folgenden Tag wurde eine weitere Lichtbildvorlage gemacht, bei der zwei auf der ersten Lichtbildvorlage ebenfalls als ähnlich erkannte Personen aus der ersten Lichtbildvorlage nicht mehr dabei waren.

Warum ist dieses Vorgehen der Polizei so ungünstig? Hierzu ein Zitat aus dem Buch „Die Gegenüberstellung im Strafverfahren“ von Dr. Hans-Jörg Odenthal:

„Die Experimentalpsychologie hat das Identifizierungsverhalten von Auskunftspersonen bei Gegenüberstellungen zahlreichen Untersuchungen unterzogen, die zu erschreckend hohen Fehlerquoten durch falsches Wiedererkennen geführt haben. Das ist darauf zurückzuführen, dass das Wiedererkennen mehr als jede andere Aussage, mit der ein zusammenhängender Geschehensablauf geschildert wird, durch suggestive Einflüsse verfälscht und eine einmal erfolgte Falschidentifikation nicht mehr korrigiert werden kann. Die bei der ersten Gegenüberstellung wirksam gewordenen suggestiven Einflüsse belasten jedes weitere Wiedererkennen, weil eine fehlerfreie Wiederholung der Gegenüberstellung nicht möglich ist. Eine wesentliche und in der Psychologie unangefochtene Erkenntnis ist, dass jedes dem ersten Wiedererkennen folgende, also das wiederholte Wiedererkennen ohne jeden Beweiswert ist.“

Die massiven Fehler bei der ersten und zweiten Lichtbildvorlage führen somit dazu, dass das Wiedererkennen durch die Zeugin insgesamt ohne jegliche Beweisrelevanz waren. Das Gericht sah dies dann auch so, dementsprechend lautete das Urteil dann auch auf Freispruch, in dubio pro reo (=im Zweifel für den Angeklagten).