2. Teil zu: Revolution im Bußgeldverfahren – Akteneinsichtsrecht auch in Unterlagen, die nicht in der Akte sind
In seinem wirklich bemerkswerten Aufsatz über „Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen“ führt der Richter am Bundesgerichthof Jürgen Cierniak aus, dass die Verteidigung aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ein Recht auf Zugang zu den für die Beurteilung des Messwerts relevanten Unterlagen hat. Teil 1 meiner Rezension können Sie hier lesen.
Cierniak legt in seinem Aufsatz auch noch dar, dass sich nach dem Grundsatz der Vollständigkeit diejenigen Unterlagen bei den Akten befinden sollten, auf die der Schuldvorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird und auch solche, die zur Begründung des Anspruchs über die Rechtsfolgen herangezogen werden.
Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens könne daher neben dem regelmäßig bereits vorhandenem Messfoto, Protokoll, Eichschein und gegebenenfalls Beschilderungsplan aber auch die Beiziehung des Messfilms als Ganzes verlangt werden. Auch insofern müsse sich der Verteidiger nicht auf eine mögliche Beiziehung des Films erst im gerichtlichen Verfahren verweisen lassen, wobei die Beschränkung der Einsicht auf die Räume einer Dienststelle im allgemeinen willkürlich und gegebenenfalls auch wegen der Entfernung unzumutbar sein dürfte.
Wegen der bei der Einsichtnahme erkennbaren Abbildung anderer Verkehrsteilnehmer verweist er auf die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, wonach Bedenken gegen dagegen nicht bestehen sollen. Dem Verteidiger sei eine Kopie des ganzen Messfilms zu übermitteln, wobei dies die vollständigen Daten der Messserie einer Geschwindigkeitsmessung beinhalte.
Detailliert geht Cierniak dann noch auf drei Urteile des Amtsgerichts Kaiserslautern, Landstuhl und Groß-Gerau ein, welche den Betroffenen jeweils freigesprochen hatten, da der Hersteller der Messgeräte unter Berufung auf sein Betriebsgeheimnis nicht sämtliche technischen Daten zur Messwertbildung zur Verfügung stellte, so dass auch die gerichtlich bestellten Sachverständigen die gemessenen Werte weder nachvollziehen noch nachprüfen konnten. Er kritisierte insofern, dass nicht ersichtlich sei, warum eine weitergehende Aufklärung nicht möglich gewesen wäre.
Unabhängig davon verweist er darauf, dass ein Sachverständigengutachten nur dann einzuholen ist, wenn konkrete Anhaltspunkte für ein Messfehler vorgebracht werden, weshalb das schon im Vorverfahren bestehende Einsichtsrecht des Verteidigers aus fair-trial in die unverschlüsselten Messdaten so wichtig sei.
Auch spreche die systembedingt nicht mögliche nachträgliche Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung, wie sie bei standardisierten Lasermessverfahren gegeben sein könne, nach oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung nicht grundsätzlich gegen die Verwertbarkeit des Messergebnisses.
Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgt nach Cierniak auch das Recht auf Einsicht in die vor – und gelegentlich auch nach – der Messung gefertigten Fotos zur Dokumentation des Funktionstests, der Fotolinie oder Kalibrierung oder dem Referenzvideo über die ordnungsgemäße Einrichtung des Fahrbahnabschnitts bei VKS Select.
Weiter folgt nach Cierniak aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens dann auch das Einsichtsrecht in einer freiwillig und unabhängig von der jeweiligen Bußgeldakte geführte sogenannte „Lebensakte“ bzw. sonstige Unterlagen über Reparaturen, zusätzliche Wartungen, vorgezogene Neueichungen oder vergleichbare Ereignisse, die die Funktionsfähigkeit des Messgeräts in dem die Tat betreffenden Eichzeitraum.
Den Einwand, dass es sich nicht um ein unmittelbares Beweismittel handelt, weist er als inhaltsleer zurück. Es gehe um die Frage, ob ein standardisiertes Messverfahren zum Einsatz gekommen sei. Auch der Einwand, dass nur beweiserheblich sei, ob die Eichsiegel bei der Messung unversehrt seien, greife viel zu kurz.
Einerseits seien auch frühere Meldungen von Messbeamten über besondere Vorkommnisse oder die Ergebnisse von Wartungen Interesse, die nicht zu einem siegelbrechenden Eingriff in das Messgerät geführt hätten. Andererseits führe nach § 13 Abs. 1 EichO auch nicht jeder Eingriff zum Erlöschen der Eichung, während umgekehrt die Eichung auch ohne Eingriff erlöschen könne. Schließlich könnten sich auch aus Reparaturen und Neueichungen, die der Messungen nachfolgten, Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Messgeräts zum Tatzeitpunkt ergeben.
Die Einsicht in die Lebensakte könne durch Übersendung der Lebensakte oder von Kopien erfolgen. Ob eine verlesbare Auskunft über erfolgte Reparaturen genügen, sei eine Frage des Einzelfalls. Wenn die Bußgeldbehörde nicht über die erforderlichen Unterlagen und Kenntnisse verfüge, habe sie diese bei der zuständigen Stelle zu ermitteln. Übergehe die Verwaltungsbehörde das Einsichtsgesuch in die Lebensakte, rechtfertige dies nicht eine Erhöhung des Toleranzabzugs um 10 %, das Gericht habe sich vielmehr um die Lebensakte zu bemühen.
Weiter solle sich aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens dann auch der Anspruch auf Einsicht in die Schulungsnachweise bzw. Bestallungsurkunde der Messbeamten ergeben. Ein standardisiertes Messverfahren liege nur bei einer den Vorgaben des Herstellers entsprechenden Ausbildung des Messbeamten vor, die hinreichend aktuell sein müsse, zum Beispiel in Fällen von überarbeiteter Software.
Seien diese Unterlagen noch nicht bei der Akte, garantiere das faire Verfahren, dass der Betroffene über seinen Verteidiger Einblick in die bei der Polizei oder Bußgeldbehörde vorhandenen Schulungsunterlagen nehmen könne. Allein die Möglichkeit, den Messbeamten in der Hauptverhandlung zu seiner Ausbildung zu befragen, genüge nicht, da der Verteidiger schon im Vor- und Zwischenverfahren das Vorliegen eines ordnungsgemäß durchgeführten standardisierten Messverfahrens prüfen können müsse.
Der Vortrag von Cierniak schließt im fünften Teil dann damit ab, dass er kurz auf drei kleinere Problemkreise eingeht.
Bezüglich der im Bußgeldverfahren teilweise sehr kritischen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu Geständnissen des Betroffenen verweist Cirniak darauf, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen der Tatrichter einem Geständnis auch dann folgen dürfe, wenn der Angeklagte die Sachverhaltsannahme der Anklage nur knapp einräume und der Tatrichter seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit des Geständnisses nicht ausführlich begründen müsse.
Zur anlasslosen Verkehrsüberwachung führt er aus, dass bei anlasslosen Dauervideoaufzeichnungen keine Rechtsgrundlage im Bundesrecht oder im Recht jedenfalls der meisten Bundesländern zur Verfügung stehe und es Frage des Einzelfalls sei, ob ein Verwertungsverbot bestehe.
Etwas ausführlicher geht er dabei auf einen vom OLG Jena entschiedenen Fall ein, wo mit der stationären Abstands- und Geschwindigkeitsmessanlage VKS Select bei hohem Verkehrsaufkommen derart viele Verdachtsfälle aufgenommen wurden, dass die Tat- und Identkameras praktisch ununterbrochen aufzeichneten.
Dies wurde vom OLG Jena dennoch als verdachtsbezogene Aufzeichnung bewertet. Cierniak äußert sein Unbehagen darüber, dass allein das an der Höhe des Verkehrsaufkommens orientierte taktische Kalkül der Geräteaufsteller darüber entscheide, ob zumindest über erhebliche Zeiträume hinweg flächendeckend gefilmt werden könne.
Bezüglich der Einführung des Messfotos in die Hauptverhandlung verweist Cierniak abschließend dann noch darauf, dass das Messfoto nebst nicht verlesbarer Zeichen durch Inaugenscheinnahme in die Haupthandlung eingeführt werden müsse, das eingeblendete Datenfeld mit den Messwerten aber grundsätzlich zu verlesen sei und von einer Bezugnahme nicht erfasst werde.
Für die Rechtsbeschwerde habe dies die Konsequenz, dass der Inhalt des Datenfelds nicht Bestandteil des Urteils sei, wenn der Tatrichter auf das Foto Bezug nimmt, ohne die Messwerte anderweitig mitzuteilen. Es greife dann schon die Sachrüge durch. Würden die Messwerte bei dieser Konstellation im Urteil erwähnt und verwertet, liege eine Verletzung von § 261 StPO vor, außer der Tatrichter habe den wesentlichen Inhalt nach § 78 Abs. 1 OwiG bekannt gegeben wurde oder es komme ausnahmsweise ein Vorhalt in Betracht.
Diese nunmehr als Aufsatz erhältliche Vortrag dürfte erhebliche Auswirkungen auf das Bußgeldverfahren haben, vorausgesetzt, die Verteidiger greifen die darin enthaltenen Gedanken auf und beantragen auch bereits frühzeitig die Einsichtnahme in sämtliche Unterlagen gemäß dem Grundsatz des fairen Verfahrens.
Auch bleibt natürlich abzuwarten, wie sich die Oberlandesgerichte in ihrer Rechtsprechung dazu verhalten werdent. Bei der seit einiger Zeit unterschiedlich entschiedenen Frage der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung und Lebensakte, Messfilm u.a. hat die Verteidigung durch Cierniak eine hervorragende Argumentationshilfe und eine sehr praktische Rechtsprechungsübersicht zu vielen Fragen des Bußgeldverfahrens bei Verkehrsverstössen an die Hand bekommen. Der Aufsatz darf m.E. in keinem Verteidigerbüro fehlen.
BGHSt 41, 376: “… Dabei darf indes nicht aus dem Blick geraten, dass das Bußgeldverfahren nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung dient. Es ist auf eine Vereinfachung des Verfahrensganges ausgerichtet. Daher dürfen gerade in Bußgeldsachen …. keine übertrieben hohen Anforderungen gestellt werden.”
Im Gegensatz dazu scheint Cierniak der Ansicht zu sein, Behörden und Justiz sollten alle Ressourcen in die Perfektionierung des OWi-Rechts investieren. Für Straftaten bleibt dann ja noch der Deal … Wie – gegen Deals gibt es auch Bedenken, höre ich?
Bleibt wohl nur zu hoffen, dass die teils inakzeptablen Thesen Cierniaks von seinem Senat nicht geteilt werden.
Ich glaube, da verstehen sie Cierniak nicht ganz richtig. Er hat sogar recht ausgiebig kritisiert, welch hohe Anforderungen die Oberlandesgerichte teilweise an die Bußgeldrichter für die Darlegung von Verkehrsordnungswidrigkeiten im Urteil stellen und meint, dass dies nicht notwendig ist.
Er legt im Übrigen völlig zutreffend dar, dass der Betroffene bereits im Vorverfahren Zugang zu den für die Beurteilung des Messwerts relevanten Unterlagen haben muss, um überhaupt substantiiert Einwendungen gegen die Messung vorbringen zu können. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein und wird es nun auch hoffentlich werden.
Es sollte für die Behörden auch nicht wirklich schwierig sein, Kopien der Bedienungsanleitung und der Lebensakte des Messgeräts etc. zur Verfügung zu stellen. Da die Verkehrsordnungswdirigkeiten eine gute Einnahmequelle für die Gemeinden und Städte sind (bei denen die Einnahmen zumeist auch bereits eingeplant sind), sehe ich nicht, wie die Ressourcen der Behörden dadurch unnötig strapaziert werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich mir aber auch eine grundsätzliche Frage: worauf kommt es denn in diesem Lande an? Dass die Ressourcen der Behörden und Justiz geschont werden und der Bürger brav und klaglos alle Bußgelder bezahlt? Dann bräuchte es die Justiz im Bußgeldverfahren bald gar nicht mehr! Im Übrigen leben wir in einem der reichsten Länder der Welt. Wenn wir uns keine ordentliche Justiz leisten wollen, dann brauchen wir uns nicht wundern, wenn es andernorts erst recht nicht passiert. Auch in Anbetracht dessen kann ich nur sagen, Cierniak liegt richtig damit: die Einhaltung des fairen Verfahrens ist immer zumutbar.
Ich bin hier ganz Ihrer Auffassung. In einem Verfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung auf der A9 habe ich dazu von dem zuständigen Bußgeldrichter am Amtsgericht Zerbst gehört, dass er einige 100 Fälle im Jahr genau wegen dieser Geschwindigkeitsüberschreitung auf seinem Tisch hat. Dabei handelt es sich um eine Stelle, die meines Erachtens nicht unbedingt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h erforderlich machen würde.
Mir erscheint es auch so, dass das Interesse an einer Einnahmenerzielung bei den Gemeinden gegenüber den eigentlich zu verfolgenden generalpräventiven und spezialpräventiven Zwecken weit überwiegt.
Vielen Dank auch für diese wichtigen Informationen.