Revolution im Bußgeldverfahren – Akteneinsichtsrecht auch in Unterlagen, die nicht in der Akte sind

[Eine redigierte Fassung dieses Beitrags wurde im VerkehrsRechtsReport 2013, Seiten 12-15 veröffentlicht]

Etwas sehr seltenes ist dem Richter am Bundesgerichtshof Jürgen Cierniak gelungen: sein  Vortrag bei den Homburger Tagen wird zweifelsohne zukünftig das Bußgeldverfahren und die Verteidigung bei Verkehrsverstößen nachhaltig verändern.

Die Bedeutung dieses Vortrags kann man daran ermessen, dass die Zeitschrift für Schadensrecht, wo der Vortrag im Dezember 2012 abgedruckt wird, diesen vorab kostenlos ins Internet gestellt und per E-Mail darüber informiert hat.

Um das Ergebnis vorwegzustellen: Cierniak legt äußerst überzeugend dar, dass der Betroffene eines Bußgeldverfahrens über seinen Verteidiger aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens einen umfassenden Anspruch auf Akteneinsicht hat, auch wenn die Unterlagen nicht in der Akte sind.

Dies betrifft sowohl das meist bei den Akten befindliche Messfoto, das Messprotokoll, den Eichschein und ggf. Beschilderungsplan vor allem aber auch den meist nicht bei der Akten befindlichen gesamten Messfilm, die Bedienungsanleitung und „Lebensakte“ des Messgeräts sowie die Schulungsnachweise bzw. Bestallungsurkunden der Messbeamten.

Jürgen Cierniak ist Richter des für Verkehrsstrafsachen zuständigen 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und hat bei den diesjährigen Homburger Tagen einen zurecht viel beachteten Vortrag mit dem Titel „Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen“ gehalten.

Der Bundesgerichtshof ist in Bußgeldsachen zwar nur in den seltenen Fällen einer Vorlage durch ein Oberlandesgericht gemäß § 121 Abs. 2 GVG tätig, so dass Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Bußgeldsachen nur sehr selten ergeht.

Das von mir als revolutionär bezeichnete Potential liegt daher in der stringenten juristischen Argumentation des Vortrags und der Fülle von Rechtsprechungsnachweisen. Es dürfte für die in Bußgeldsachen regelmäßig tätigen Amtsgerichte und Oberlandesgerichte nur sehr schwer sein, daran vorbei zu kommen.

Ausgehend von zwei Entscheidungen des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 19. August 1993 (Aktenzeichen: 4 StR 627/92) und vom 30. Oktober 1997 (Aktenzeichen: 4 StR 24/97) geht Cierniak zunächst auf den Begriff des standardisierten Messverfahrens ein: ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind.

Cierniak setzt sich dann sehr detailliert und teilweise kritisch damit auseinander, wie der Begriff des standardisierten Messverfahrens in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und Amtsgerichte ausgelegt und angewendet worden ist. Er erinnerte dabei daran, dass der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 19. August 1993 aber auch ausdrücklich betont hat, dass es keinen Erfahrungssatz gibt, wonach die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern und ein Betroffener Anspruch darauf hat, dass er nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt wird.

Nachfolgend geht Cierniak dann auf die Möglichkeiten der Verteidigung ein und verweist auf die obergerichtliche Rechtsprechung, wonach ein standardisiertes Messverfahren nur dann vorliegt, wenn das Messgerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardmäßig verwendet wird.

Gemeint ist damit, dass das Messgerät in geeichtem Zustand und gemäß der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und den Zulassungsbedingungen der PTB sowohl beim Messvorgang auch den vorausgehenden und gegebenenfalls nachfolgenden Gerätetests sowie den Schulungen des Personals verwendet wird.

Er gibt dann eine Übersicht über das breite Spektrum der Möglichkeiten im Bußgeldverfahren und listet dreißig unterschiedliche Verteidigungsansätze gegen Geschwindigkeitsmessungen auf. Gerade für seltener im Bußgeldverfahren tätige Verteidiger dürfte dies als wertvolle Arbeitshilfe erweisen.

Denkwürdig sind dann die nachfolgenden Ausführungen im dritten und vierten Teil seines Vortrags, in dem er ausführt, dass der Verteidiger uneingeschränkten Zugang zu den Beweisgrundlagen des konkreten Verfahrens haben muss.

Zu Recht verweist er darauf, dass die Balance im Bußgeldverfahren entscheidend verschoben wird, „wenn es dem Verteidiger nicht mehr möglich ist, sich die für seine Verteidigung erforderlichen Informationen über die gegen seinen Mandanten verwendeten Beweismittel zu beschaffen.

Dies leitet er aus dem Kerngehalt des fair-trial-Prinzips ab, das sowohl verfassungsrechtlich als auch in Art. 6 Abs. 1 MRK verankert ist. Wasser auf die Mühlen der Verteidigung sind auch seine folgenden Ausführungen:

Wer hier sagt, der Verteidiger möge konkrete Anhaltspunkte vortragen, dann werden Verfolgungsbehörde und Tatgericht schon ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen, der verstellt die Weichen in einer dem fair-trial-Grundsatz nicht mehr genügenden Weise zulasten des Betroffenen. Der Verteidiger muss in der Lage sein, bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugang auf Messdaten und Messunterlagen … die konkreten Anhaltspunkte erst einmal zu ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann, um die Amtsaufklärungspflicht auszulösen.

Dementsprechend sieht er die Rechtsgrundlage auf die zur Beurteilung des Messwerts relevanten Unterlagen und Daten in dem Grundsatz des fairen Verfahrens und führt aus, dass dieses Recht unabhängig von der Amtsaufklärungspflicht besteht:

Eine wesentliche Ausprägung der Verfahrensfairness ist das Gebot der Waffengleichheit; es erfordert unter anderem, dass beide Seiten in gleicher Weise Teilnahme-, Informations- und Äußerungsrechte wahrnehmen können. An der damit garantierten „Parität des Wissens“ fehlt es, wenn die Bußgeldbehörde, nicht aber der Betroffene Zugang zu den für die Beurteilung des Messwert relevanten Unterlagen hat.

Insbesondere folgt dann aus diesem Gebote der Verfahrensfairness, dass die Möglichkeit zur Überprüfung technischer Messungen deutlich vor der gerade in Bußgeldsachen oft sehr kurzen Hauptverhandlung gewährt werden muss und dies bei der Gewährung des Einsichtsrechts zu beachten ist.

Im vierten Teil des Vortrags geht geht Cierniak dann auf die Rechtsprechung zur Einsicht in die Messunterlagen ein und nimmt dabei als Beispiele die Einsichtnahme in das Messfoto und Bedienungsanleitung als Anknüpfungspunkte. Die Übersicht der Rechtsprechung zur Einsicht in das Messefotos veranschaulicht sehr gut die Grundsätze zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren.

Unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesverfassungsgerichts führt er dann noch aus, dass angesichts der zentralen Bedeutung des Messfotos für den der Nachweis kaum eine Situation vorstellbar ist, in welcher selbst der ortsansässige Verteidiger auf einer Einsicht in das Foto auf Dienststelle verwiesen werden könnte. Er geht dann auch detailliert auf die Möglichkeiten ein, welche Rechtsbehelfe bei der Versagung von Akteneinsicht im Bußgeldverfahren bestehen.

Spannend sind dann die Ausführungen von Cierniak zur Frage der Einsicht der Verteidigung in die Gebrauchsanweisung/Bedienungsanleitung des Messgeräts. Er geht dabei von dem Grundsatz aus, dass ein standardisiertes Messverfahren im Einzelfall nur vorliegt, wenn das Messgerät entsprechend der Bedienungsanleitung eingesetzt wird und schreibt dazu:

Dieser Befund reicht aus, um ein Recht des Verteidigers auf Einsicht in die Gebrauchsanweisung zu bejahen. Der Verteidiger muss sich zum Beispiel darüber informieren können, welche konkreten Anforderungen der Hersteller an die Durchführung von Funktionstests stellt, ob und welche Fotos zur Dokumentation von Fotolinien oder Kalibrierung zu fertigen sind.

Er geht dann im einzelnen auf verschiedene Messverfahren ein und welche Anforderungen sich aus den Bedienungsanleitungen für die Überprüfung der Messung ergeben können. Zutreffend weist Cierniak auch darauf hin, dass eine effektive Verteidigung ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung nicht möglich ist und der erhobene Einwand nicht verfängt, dass es genügen würde, den Messbeamten in der Hauptverhandlung zu befragen, ob er das Gerät entsprechend der Bedienungsanleitung aufgebaut und betrieben hat.

Der Verteidiger sei bereits zur vorgerichtlichen Rechtswahrung gegenüber der Verwaltungsbehörde berufen und müsse in jeder Lage des Verfahrens selbst prüfen können, ob  dem erhobenen Vorwurf erfolgreich entgegengetreten werden kann.

Als Rechtsgrundlage für die Einsicht in die Bedienungsanleitung, soweit diese nicht ausnahmsweise bei der Akte ist, sieht Cierniak den Grundsatz des fairen Verfahrens. Nach dem formellen Aktenbegriff ergebe sich aus § 147 Abs. 1 StPO kein Recht auf Bildung eines größeren Aktenbestands. Diese Norm könne nicht Anspruchsgrundlage für die Einsicht in Unterlagen sein, die nicht bei der Akte sind.

Grundlage für den Anspruch auf Einsicht sei vielmehr der Grundsatz des fair-trial sein, woraus sich das Recht zur Einsicht in die Bedienungsanleitung ergibt. Cierniak ist zutreffend der Auffassung, dass zur Wahrung der Rechte des Betroffenen im Vorverfahren und zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines Einspruchs sowie der Befragung des Messbeamten in der Hauptverhandlung die Kenntnis und ständige Verfügbarkeit der Bedienungsanleitung Voraussetzung sind.

Der Verteidiger müsse sich danach nicht auf den Einsichtnahme auf einer Dienststelle oder Inanspruchnahme eines ortsansässigen Unterbevollmächtigten verweisen lassen.

Prägnant führt Cierniak auch aus, dass die Beschränkung auf die Einsichtnahme in den Diensträumen willkürlich sein dürfte, insbesondere wenn sie nur für einen „kurzen Zeitraum“ zur Verfügung gestellt wird oder ein online Zugriff auf die Homepage des Herstellers vermittelt wird, die Gebrauchsanweisung oder einzelne Seiten daraus dann aber nicht ausgedruckt werden können.

Nach Cierniak ist dem Verteidiger daher die Möglichkeit zu eröffnen, eine Kopie der Bedienungsanleitung in seiner Kanzlei zu fertigen oder ihm diese als Datensatz per E-Mail oder auf einem von ihm zur Verfügung gestellten Datenträger zu übersenden. Auch der teilweise vertretene Einwand, dass die Anfertigung einer Kopie der Behörde nicht zumutbar sei, da das Original ständig benötigt werde, weist Cierniak zurück:

Abgesehen davon, dass die Behörde ohnehin Kopien für allfällige gerichtliche Anforderungen vorhalten bzw. anfertigen muss, kommt es darauf nicht an; die Einhaltung des fairen Verfahrens ist immer zumutbar.

Eingehend setzt sich Cierniak dann mit dem Einwand auseinander, ob der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung ein Urheberrecht des Herstellers entgegensteht. Er geht detailliert auf die verschiedenen vertretenen Auffassungen ein und meint, dass ihn der von Burhoff in die Debatte eingeführte Hinweis auf das in § 45 UrhG enthaltene, auf den Verfahrenszweck und die Beteiligten begrenzte Vervielfältigungsrecht überzeugt habe. In jedem Fall solle der Verteidiger die überlassenen Unterlagen aber nur für das jeweilige Verfahren verwenden und nicht anderweitig veröffentlichen dürfen, auch nicht nach Abschluss des Verfahrens.

Cierniak setzt sich dann noch mit dem Rechtsbehelf des § 62 OwiG bei Verweigerung der Einsichtnahme durch die Verwaltungsbehörde und der Ablehnung der Beiziehung durch den Bußgeldrichter auseinander. Lehnt der Bußgeldrichter die Beiziehung ab, weist Cierniak darauf hin, dass eine Beschwerde dagegen nach wohl überwiegender Rechtsprechung  gemäß § 305 S. 1 StPO unzulässig ist. Der Verteidiger müsse dann den Weg über die Wiederholung des Antrags in der Hauptverhandlung gehen, um sich gegebenenfalls die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 8 StPO zu erhalten.

[Mit Teil 2 geht es hier weiter]