Bundesverfassungsgericht zu Bundeswehreinsatz in Deutschland

Große Aufmerksamkeit hat ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 (Az.  2 PBvU 1/11) erregt, der letzte Woche veröffentlicht wurde.

Es handelt sich dabei um einen der äußerst seltenen Plenumsbeschlüsse [der fünfte überhaupt in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts], bei dem die Mitglieder der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts gemeinsam entscheiden.

Zu einem solchen Plenumsbeschluss kommt es gemäß § 16 BVerfGG, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte mit Urteil vom 15. Februar 2006 (Az. 1 BvR 357/05) entschieden, dass § 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes  mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 87 a Absatz 2 Grundgesetz und Artikel 35 Absatz 2 und 3 Grundgesetz sowie in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig ist.

Dieses Verfahren wurde aufgrund einer Verfassungsbeschwerde durchgeführt, die sich dagegen wendete, dass die Streitkräfte [d.h. die Bundeswehr] durch § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz ermächtigt wurden, Flugzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, mit Waffengewalt abzuschießen.

Dies erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts für unvereinbar und nichtig mit dem Grundgesetz, soweit durch den Abschuss unschuldige Menschen an Bord betroffen werden.

Dies begründete der Erste Senat zum Einen damit, dass es schon an einer Gesetzgebungsbefugnis des Bundes fehle. § 14 Abs. 3 LuftSiG sei mit den wehrverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbar.

Im Rahmen der Urteilsbegründung ging der Erste Senat dabei auf die Regelungen in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG ein und führte aus, dass es dem Bund nicht erlaubt ist, die Bundeswehr bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen. Auch sei es verfassungswidrig, wenn der Einsatzbefehl dafür nur von Verteidigungsminister und nicht von der Bundesregierung als Ganzes erteilt werde.

Zum Anderen sei die Regelung auch mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und auch materiell mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in Einklang, soweit dadurch gestattet wird, Flugzeuge abzuschießen, in denen sich unschuldige Menschen befinden.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte fast zeitgleich einen Normenkontrollantrag der bayerischen Staatsregierung und der hessischen Landesregierung vorliegen, die sich ebenfalls gegen Regelungen des Luftsicherheitsgesetzes wendeten.

Dieser Antrag von CDU bzw. CSU geführten Landesregierungen ist schon für sich genommen kurios, da es genau diese Parteien sind, die einen möglichst weitgehenden Einsatz der Bundeswehr im Inneren befürworten, wie auch der Bayrische Innenminister im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht äußerte.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht wollte anders entscheiden, als der Erste Senat und fragte daher an, ob dieser an seinen Rechtsauffassungen festhalten wolle. Nachdem der Erste Senat erklärt hatte, dass er an seinen Rechtsauffassungen festhält, rief der Zweite Senat gemäß § 16 BVerfGG mit Beschluss vom 3. Mai 2011 das Plenum an.

In diesem Beschluss teilte der Zweite Senat mit, dass er anders als der Erste Senat
1.) eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Luftsicherheitsgesetz in Artikel 73 Nr. 1 oder Artikel 73 Nr. 6 des Grundgesetzes sieht
2.) Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen zulassen
3.) eine Eilkompetenz des Verteidigungsministers im Fall von § 13 Absatz 3 Satz 2 und 3 des Luftsicherheitsgesetzes mit Artikel 35 des Grundgesetzes vereinbar ist.

Die Auffassungen der beiden Senate standen sich vor der Plenumsentscheidung also ziemlich konträr gegenüber. Der Beschluss des Plenums beider Senate vom 3. Juli 2012 liest sich danach als klassische Kompromisslösung.

Das Plenum ist hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz der Auffassung des Zweiten Senats gefolgt, wonach die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Luftsicherheitsgesetz aus Art. 73 Nr. 6 des Grundgesetzes folgt.

Hinsichtlich der Eilkompetenz des Verteidigungsministers ist das Plenum hingegen  der Auffassung des Ersten Senats gefolgt, wonach diese verfassungswidrig ist und der Einsatz der Bundeswehr nach Artikel 35 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes auch in Eilfällen nur aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan zulässig ist.

Somit blieb als Streitpunkt nur noch die Frage, ob und wie bei einem Einsatz der Bundeswehr gemäß Art. 35 GG die Verwendung von spezifisch militärischen Waffen erlaubt ist. Herausgekommen ist bei der Entscheidung des Plenums eine Kompromisslösung:  die Verwendung spezifisch militärischer Waffen ist danach zulässig, allerdings nur unter engen Voraussetzungen.

Es muss insofern sichergestellt werden, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inneren durch Artikel 87 a Absatz 4 GG gesetzt sind.

Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Plenumsbeschlusses ansieht, scheint mir recht offensichtlich zu sein, dass eine Kompromissformel gesucht wurde, mit der beide Senate leben können.

In Art. 87 a Abs. 2 GG ist geregelt, dass die Bundeswehr außerhalb des Verteidigungsfalles nur eingesetzt werden darf, soweit dies im Grundgesetz ausdrücklich zugelassen wird. Dafür gibt es drei Regelungen:

– Nach Art. 87 a Abs. 4 GG ist der Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes zulässig, sofern eines oder mehrere Bundesländer gemäß  Artikel 91 Abs. 2 GG  zur Gefahrenbekämpfung nicht willens oder nicht in der Lage sind und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen.

In diesem Fall kann die Bundeswehr zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer von der Bundesregierung eingesetzt werden. Der Einsatz der Bundeswehr ist dabei einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.

– Gemäß Art. 35 Absatz 2 GG kann ein Bundesland zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall die Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr anfordern.

– Darüber hinaus kann die Bundeswehr gemäß Art. 35 Absatz 3 GG eingesetzt werden, wenn eine Naturkatastrophe oder ein besonders schwerer Unglücksfall mehr als ein Bundesland gefährdet.

Die Bundesregierung kann in diesem Fall, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, die Landesregierungen anweisen, ihre Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, und Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen. Diese Maßnahmen sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben.

In dem Plenumsbeschluss findet sich für den Fall eines besonders schweren Unglücksfalls im Sinne von Art. 35 Absatz 2 und 3 Grundgesetz eine neue Interpretation, die zu Recht ob ihrer Konturenlosigkeit kritisiert wird.

Das Plenum spricht davon, dass ein absichtlich herbeigeführtes „Ereignis von katastrophischem Ausmaß“ auch ein besonders schwerer Unglücksfall im Sinne von Art. 35 Abs. 2, 3 GG sein könne. Auch diese scheint mir eine Kompromissformel zu sein, auf die sich die beiden Senate geeinigt haben.

Was damit inhaltlich gemeint sein könnte, sagt das Plenum des Bundesverfassungsgerichts denn auch nicht, sondern definiert nur, was es nicht sein kann:

Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, sollen keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG darstellen, der einen Einsatz der Bundeswehr rechtfertigen könnte.

Auch im Übrigen soll die Bundeswehr gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden können, die nicht in Art. 87 a Abs. 4 GG geregelt sind.

Im Übrigen teilt das Bundesverfassungsgericht noch mit, dass ein Unglücksfall auch dann vorliegen kann, wenn die zu erwartenden Schäden noch nicht eingetreten sind, der Unglücksverlauf aber bereits begonnen hat und der Eintritt katastrophaler Schäden unmittelbar droht.

Schließlich soll der Einsatz der Bundeswehr und der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig sein. soweit es gemäß Art. 35 Abs. 3 Grundgesetz zur wirksamen Bekämpfung der durch eine Naturkatastrophe oder einen besonders schweren Unglücksfall veranlassten Gefahr erforderlich ist.

Auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte bereits in seinem Beschluss vom 15. Februar 2006 ausgeführt, dass „unter einem besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz im Allgemeinen ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden wird , das … wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt und auf menschliches Fehlverhalten oder technische Unzulänglichkeiten zurückgeht“.

Weiter hatte der Erste Senat in seinem Beschluss vom 15. Februar 2006 auch ausgeführt, dass ein Unglücksfall auch ein vorsätzlich durch Menschen herbeigeführtes Ereignis sein kann. Nach Sinn und Zweck des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz solle durch den Einsatz auch der Bundeswehr ein wirksamer Katastrophenschutz ermöglicht werden, was ebenfalls dafür spreche, den Begriff des Unglücksfalls weit auszulegen. Daher seien als besonders schwere Unglücksfälle auch Schadensereignisse anzusehen, die von Dritten absichtlich herbeigeführt werden.

Es ist daher praktisch kaum denkbar, dass der nun vom Plenum des Bundesverfassungsgerichts erschaffene Begriff des „Ereignis von katastrophischem Ausmaß“ über das hinausgeht, was auch bisher schon vom Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts als besonders schwerer Unglücksfall angesehen wurde.

Im Gegensatz zu dem Beschluss des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 hat das Plenum in seinem Beschluss vom 3. Juli 2012 aber eine genauere Definition des „Ereignis von katastrophischem Ausmaß“ vermieden, was der Bundesregierung im Fall der Fälle etwas Interpretationsspielraum innerhalb der vom Plenum – durch Verwendung von Negativbeispielen – sehr eng gesteckten Grenzen lässt.

In einer Hinsicht hat der Plenumsbeschluss die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren aber wesentlich erweitert. Auch außerhalb der Bekämpfung von organisierten und militärisch bewaffneten Aufständischen gemäß Art. 87 a Abs. 4 GG sollen spezifisch militärische Mittel nach Mehrheitsentscheidung des Plenums auch im Rahmen von Naturkatastrophen [dabei allerdings kaum sinnvoll vorstellbar] oder bei Unglücksfallen eingesetzt werden können.

Innerhalb der oben engen genannten Grenzen kann daher auch im Inneren als ultima ratio bei Unglücksfällen des gesamte Arsenal der Bundeswehr zur Anwendung kommen. Dass dies Unbehagen verursacht, kann ich sehr gut nachvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern wohl seine Kompetenzen überschritten.

Der Richter Gaier hat in seiner [am Ende der Entscheidung wiedergegebenen] abweichenden Meinung zum Votum  zu dieser Frage sehr klar aufgezeigt, dass das Plenum des Bundesverfassungsgerichts über die reine Verfassungsinterpretation hinausgeht und die Entscheidung in dieser Frage die Wirkung einer Verfassungsänderung hat, zu der das Bundesverfassungsgericht aber nicht befugt ist.

Es bleibt daher nur zu hoffen, dass sich nie die Notwendigkeit ergeben wird, überhaupt darüber nachzudenken, die Bundeswehr auch außerhalb von Naturkatastrophen im Inneren einzusetzen und dabei spezifisch militärische Mittel zu verwenden. Ein Blick in deutsche Geschichte sollte eigentlich Warnung genug sein für alle Politiker, die Einsätze der Bundeswehr im Inneren fordern.