Fehlerquellen beim Wiedererkennen durch Zeugen – zugleich Besprechung von BGH 5 StR 372/12

Das Wiedererkennen durch Zeugen im Strafverfahren ist ein in der Praxis sehr relevantes Thema, zu dem hier immer wieder auch Leserzuschriften zu den Beiträgen „Im Zweifel für den Angeklagten“ und „Wie man ein ‚Wiedererkennen‘ im Gerichtssaal vermeidet“ eingehen. Daher erfolgt in diesem Beitrag eine eingehendere Erörterung der Thematik und des Urteils des Bundesgerichtshofx vom 25.09.2012 – Az.: 5 StR 372/12.

Die Identifizierung von Tatverdächtigen durch Zeugen im Ermittlungs- bzw. Strafverfahren ist ein wichtiges, teilweise sogar das einzige Beweismittel, mit dem die Täterschaft nachgewiesen werden kann. Umso erstaunlicher ist es, dass die mit dem visuellen Wiedererkennen zusammenhängenden Probleme in der Rechtsprechung bisher noch nicht vertieft erörtert worden sind.

Der Bundesgerichtshof hat sich zwar immer mal wieder mit der Thematik befasst, dabei aber keine Erkenntnisse aus der rechtspsychologischen Forschung herangezogen. Auch wurden zu der Frage der Bewertung von (möglichen) Fehlerquellen bei der Identifizierung durch Zeugen keine höchstrichterlichen Vorgaben gemacht.

In der Praxis kommt es daher immer wieder zu – auch groben – Fehlern bei der Durchführung von Lichtbildvorlagen und Gegenüberstellungen durch die Polizei und nachfolgend auch bei der Bewertung der daraus gewonnenen Erkenntnisse durch die Strafgerichte, was ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann.

Eine historische Analyse bekanntgewordener Fälle hat laut Köhnken und Sporer (Köhnken/Sporer, Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, S. 1) gezeigt, dass Falschidentifizierungen einen nicht unerheblichen Anteil an Justizirrtümern haben, allerdings lasse sich die tatsächliche Häufigkeit von Fehlurteilen aufgrund von Falschidentifzierungen nur schwer abschätzen (Köhnken/Sporer, aaO, S. 2).

Die Identifizierung und somit auch der Nachweis für die Täterschaft sind aber enorm fehleranfällig. Nack führt aus, dass bei einer simultanen Gegenüberstellung eine Fehlerquote von 72 % bestehe und bei einer sequentiellen Gegenüberstellung immer noch eine Fehlerquote von 44 % (in: Widmaier, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 33 Rn. 36).

Diese Gefahr der Falschidentifikation erhöht sich noch erheblich, wenn bei den Ermittlungen Fehler passieren, insbesondere bei der Wahllichtbildvorlage oder Gegenüberstellung.

Bei dem Wiedererkennen durch den Zeugen erfolgt ein Vergleich zwischen einer gegenwärtigen Wahrnehmung, dem Betrachten einer oder mehrerer anwesender Personen, mit einer vergangenen Wahrnehmung, dem im Gedächtnis vorhandenen Bild des Täters. Diese Gedächtnisleistung ist Teil eines komplexen und äußerst fehleranfälligen Vorganges.

In jeder Phase des dreistufigen Prozesses der Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe können zahlreiche psychologische Fehler auftreten, wodurch die Zuverlässigkeit und damit auch der Beweiswert der Identifizierung beeinträchtigen werden (vgl. Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, S. 22 m.w.N.).

Grundlegend hat dazu bereits Stern im Jahr 1902 festgestellt, dass die fehlerlose Erinnerung nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist (vgl. William Stern, Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, in: William Stern (Hrsg.), Beiträge zur Psychologie der Aussage, 1, Leipzig 1904, 269–326). Abgesehen davon gibt es verschiedene Faktoren, die bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind.

1.) Wahrnehmung des Täters durch den Zeugen

Dabei muss zwischen den objektiven und subjektiven Wahrnehmungsbedingungen unterschieden werden.

Was objektiv wahrnehmbar ist, ergibt sich aus den äußeren Umständen bei der Tat. Dies hängt von der jeweiligen Situation ab. Insbesondere sind dabei die Licht- und Wetterverhältnisse bedeutsam, die Dauer der Beobachtung sowie Entfernung und Standort des Beobachters.

Da die menschliche Wahrnehmung selektiv ist, nimmt ein Zeuge jedoch nicht nicht alles wahr, was objektiv wahrnehmbar wäre (vgl. Odenthal, aaO; Ludewig/Tavor/Baumer, Wie können aussagepsychologische
Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?, AJP/PJA 11/2011, S. 1415, 1418
).

Einschränkungen können sich einerseits aus der Sehkraft des Zeugen ergeben. Andererseits ist auch die psychische Verfassung des Zeugen zu berücksichtigen. Die subjektive Wahrnehmung eines unbeteiligten Zuschauers unterscheidet sich z.B. von der des betroffenen Opfers. Gerade aufgrund von Angst kann es schwierig sein, das Geschehen genau aufzunehmen.

Auch wird die Aufnahme von Informationen dadurch beeinflusst, was der Zeuge zu sehen erwartet, sog. Erwartungseffekt (vgl. Ludewig/Tavor/Baumer, aaO).

Wenn Zeugen mit einer Waffe bedroht wurden, kann die Aufmerksamkeit darauf fokussiert sein, sog. Waffenfokus. Dann können die Zeugen zwar häufig die Waffe detailliert beschreiben, nur selten ist dann jedoch eine genaue Personenbeschreibung des Täter möglich (vgl. Ludewig/Tavor/Baumer, aaO, S. 1418-1419).

Schließlich wurde nach Unfällen oder Naturkatastrophen auch ein sog. Tunnelgedächtnis bei Betroffenen festgestellt. Das Kerngeschehen selbst, z.B. der Unfall, wurde gut erinnert, aber zeitlich davor oder danach liegende Ereignisse nur sehr schlecht.

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